Herausforderung: Pleinair

Julia Gutkina lernte ich 2014 als Jurymitglied des X. internationalen Pleinairs im Atelier Otto Niemeyer-Holstein auf der Insel Usedom kennen. Die Jury hatte damals die besonders schwere Aufgabe, Teilnehmer aus über 80 Bewerbern aus dem In- und Ausland auszuwählen. Julia Gutkina konnte mit ihren Arbeiten überzeugen. Ebenso wie der Stifter des Pleinairs sollten die Künstler „Bewunderer der sichtbaren Welt“ ¹ sein und gegenständlich arbeiten können, um sich auf die Landschaft und das Künstleranwesen einlassen zu können.

„In der Malerei ist Licht nicht darstellbar, davon bin ich überzeugt. Auch hier spielt das „Als ob“ die entscheidende Rolle. Es gibt verschiedene Ansichten darüber, aber ich meine, Cézanne hat recht, dass die Farbe das Licht interpretieren muss.

Man muss die Luft als Maler sehen; ob man sie auch malen will, ist eine andere Frage. Aber es ist doch die Luft, die räumliche Gegebenheiten in natürliche Zusammenhänge bringt, sie ordnet und gliedert. Die Luft malen, das war nicht nur das Problem der Impressionisten, diese darauf zu begrenzen heißt zugleich auch die Impressionisten nicht richtig begreifen. Mit dem Problem der Luft wird sich jeder Maler auseinandersetzen müssen, besonders wenn er in die Landschaft geht.“ ²

Für Julia Gutkina war der Pleinairaufenthalt auf der Insel Usedom ein wichtiger Wendepunkt, eine willkommene Auffrischung ihres Arbeitsalltags, eine glückliche Fügung und Ansporn zugleich. Aufgewachsen in St. Petersburg, verbrachte sie ihre Sommerferien oft am Finnischen Meerbusen. Sie mag die gedeckte Farbigkeit der Ostseeküste, den tiefen rauen Himmel und die Weite der Dünen. Immer wieder zieht es sie an die Ostsee.

„Lüttenort“, das Refugium des Malers Otto Niemeyer-Holstein, von ihm selbst über Jahrzehnte zu einem Verwandelspiel von Kunst und Natur gestaltet, liegt an der schmalsten Stelle der Insel Usedom. Das Meer, die Damerower Wiesen, der Wald und das verschilfte Ufer des Boddens, die Steilküste in Koserow, nur wenige Schritte entfernt, bieten im Zusammenspiel von Wolken, Wind und wechselnden Lichtverhältnissen immer wieder neue Eindrücke.

Julia Gutkina nahm die Herausforderung an. Ihre Pleinairarbeiten leuchten in intensiver Farbigkeit und geben die Stimmung der Landschaft ausdrucksstark wieder: das silbern schimmernde Achterwasser, umgeben von üppiger Schilf- und Wiesenvegetation, sowie Garten- und Uferbereiche. Julia Gutkina hat eine scharfe Beobachtungsgabe, sie hat sich eine eigenwillige Sehweise angeeignet: Ungewöhnliches zu sehen, wie bizarre Schattenformen in der Dünenlandschaft, Buhnen die einen waagerecht verlaufenden graphischen Rhythmus bilden.

Die Strand- und Deichinterpretationen nehmen einen großen Raum ein und überraschen durch eine ungewöhnliche Perspektive. Hier sehe ich die Künstlerin am stärksten. Sie wählt für ihre Naturbeobachtungen Ausschnitte, Verwerfungen, Strukturen und Farbverläufe der für die Insel Usedom typischen Sanddünen. Kontrastreich werden Restformen und Negativformen graphisch herausgearbeitet. Hier ist der von Julia Gutkina beschrittene Weg sehr gut erkennbar: von der Anschauung zur Abstraktion.
Die „sichtbare Welt“ bietet für Gutkinas Entdeckungen eine unerschöpfliche 
Quelle – dies bezeugen auch die Pleinairarbeiten, die in Finnland 2015–16 geschaffen werden. Dort malt sie eine Reihe sehr intimer Gemälde von Innen- und Außenansichten. Das kleine Format unterstreicht diesen Charakter. Zu sehen sind Felsengebilde in abendlicher Stimmung, Wälder an Seen, Spätsommer und Stille. Die Arbeiten sind sehr atmosphärisch und spiegeln uns stimmungsvoll innere Ruhe und den Einklang mit der Natur wider. Die Freilichtmalerei wird für Julia Gutkina in den folgenden Jahren eine Ergänzung und Vervollkommnung ihrer künstlerischen Tätigkeit, wie auch die wunderbaren Tuschzeichnungen und Aquarell/Gouachearbeiten zeigen, die 2018 während ihres Aufenthaltes im Naturpark Unteres Odertal entstehen.
„Das ist doch als Maler mein eigentliches Leben: das Sehen, sehen und dann übersetzen. Wenn ich so ein Stück Gras wirklich erfasse und einen Organismus schaffe, der dem entspricht: da muss die ganze Welt drin sein.“ ³

Franka Keil

¹ Joachim John
² Otto Niemeyer-Holstein in Lüttenort, Berlin 2019, S. 276 ff

³ Otto Niemeyer-Holstein 1982 in dem Film „…und der Strand ist meine große Geliebte.“

Mit freundlicher Unterstützung:
BBK „Neustart Kultur“
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien