Topografien äußerer und innerer Landschaften
Zum visuellen Werk von Julia Gutkina
Julia Gutkina schaut. Der Blick schweift – erlebend, erfassend, vermessend,
ruhend. Panorama und Nahsicht, Darstellung und Neu-Schöpfung, Erzählung und Analyse. Die Künstlerin bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Malerei, Grafik und Relief, sowie den Polen figurativer Verdichtung und stimmungsschaffender Abstraktion.
Dabei ist ihr Interesse zunächst auf das gerichtet, was tatsächlich erscheint. Sie nähert sich der greifbaren Welt an, verharrt dabei aber nicht in der bloßen Wiedergabe. Natur und räumlich-dingliche Gegebenheiten werden hier als Ausgangspunkt genutzt, als Erfahrungswelt, ästhetisches Gegenüber und ebenso auch als Forschungsobjekt zur Erkundung, Veranschaulichung und Ästhetisierung zeitlicher physischer und erlebensbedingt persönlicher Prozesse.
Wodurch aber erreichen Gutkinas Arbeiten ihre Wirkung?
Worin liegt ihre Besonderheit?
Die Künstlerin wendet sich der Landschaft im weitesten Sinne als künstlerischen Topos zu, mittels dessen sie nicht lediglich persönliche Sichtweisen entäußert, sondern darüber hinaus überpersönliche Ebenen berührt, die verbal kaum zu erfassen sind. Farb- und Lichtspiel einer nordischen Seenlandschaft verdichten sich zu einer atmosphärischen Szenerie, erzählen von warmen Sommernachmittagen und erschaffen für einen Moment einen Illusionsraum für eine annähernd träumerische Versenkung. Demgegenüber brechen Spiegelungen an einer Wasseroberfläche oder Lichtreflexe an herbstlichen Bäumen bei genauerem Hinsehen zu autonom operierenden Farbfeldern auseinander, deren ästhetische Eigendyna-
mik – und das ist ihr besonderer Reiz – von jeglicher Narration befreit erscheint.
Intrinsisch mit der Motivik verbunden entfaltet sich in den Arbeiten Gutkinas eine reichhaltige visuelle und geradezu haptisch sowie klanglich anmutende Phänomenologie. Schwingende, changierende und in Auflösung begriffene Form- und Farbverläufe begegnen festen, opaken und konturierten Bildelementen. Feine Strukturlinien und Schattierungen treffen auf einen kräftig gesetzten Duktus (bzw. „Druck-tus“). Lichtspektren und Düsternis, Unregelmäßigkeit und Geometrisches, Spontaneität und Plan treffen aufeinander. Über allem herrscht eine ordnende Kohärenz, in der kontrollierte und entschiedene Setzungen nicht selten mit zufallsnahem, der Kontrolle entzogenem Farb- und Formgeschehen dialogisieren. So begegnen sich spielerische Freiheit und pointierte Formulierung und bewirken ein lebendiges Drittes. Gutkinas Arbeiten scheinen den betrachtenden Blick zu leiten und zu begleiten – und gleichzeitig auf eine rätselhafte Weise selber in die Welt zu blicken.
Wie ist dieses Phänomen zu beschreiben?
Zunächst scheinen wir in den Bildern und Reliefs Motive zu erblicken, die der Außenwelt entlehnt sind, ja diese zu ergreifen und umzuwandeln scheinen in Etwas, das uns … irgendwie … berührt.
Verharren wir nun im Schauen und überlassen uns dem visuellen Erleben, öffnet sich eine neue Ebene von Gutkinas Bildwelten. Der Blick auf die malerisch-grafischen oder reliefartigen Erzählungen richtet sich plötzlich wie durch einen Spiegel auf uns selbst und unsere eigene Innenwelt. Unwillkürlich sind wir eingetreten in ein Vermessen und Betrachten eigener innerer Landschaften und Räume, und wir bemerken – möglicherweise erst im Nachhall – dass wir uns Gutkinas Vorgehen bereits angeschlossen haben, äußeres und inneres Geschehen miteinander zu verbinden. Die Arbeiten blicken nun gleichsam auf uns zurück und darüber hinaus auf die Welt der Erscheinungen um uns herum, aus der jegliche Wahrnehmungen und Bildschöpfungen entspringen.
An diesem Punkt kann vieles geschehen. Erinnerungen, Einsichten, Emotionen oder einfach das pure Erleben bilden Komponenten der visuell-psychischen Erfahrung des Betrachtens der Kunst von Julia Gutkina. Die Künstlerin eröffnet einen Raum zur Befragung des Seienden, Erscheinenden und des Eigenen mittels der Wahrnehmung ihrer Bildwerke.
Diese ontologische Dimension, nämlich eines ästhetischen Dialogs mit Natur und Selbst, Kunst und Psyche, Persönlichem und Überpersönlichem offenbart eine der Romantik verwandten Dimension Gutkinas Werks, die dennoch keine verpflichtende ist. Denn: die Künstlerin klärt dabei nicht auf, beantwortet nicht und legt nicht fest. Stattdessen lässt sie uns als Betrachtende selbst entdecken und entscheiden, wie und mit welchem Fokus wir blicken und die eigene Resonanz auf das Erblickte verarbeiten wollen.
Die auf langjährige Seh- und Arbeitserfahrung fundierende, eine dezidierte handwerkliche Qualität erzielende Arbeitsweise Gutkinas beruht einerseits auf dem Bewusstsein akademisch orientierter Traditionen und Erzählweisen, löst sich andererseits davon mittels einer natürlichen ‚Laissez Faire‘ an dem Punkt, wo das freie ästhetische Erleben ins Spiel kommt. Hierdurch erhält die Wirkung von Gutkinas Werken einen weiten und offenen Möglichkeitsraum.
Jürgen Fritsche
Mit freundlicher Unterstützung:
BBK „Neustart Kultur“
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien