naturbedingt

Der aufmerksamen Betrachterin werden bisweilen alltägliche Dinge zum Faszinosum. Dann kann die zufällig gesehene Form eines Schattens, spontan in einer Skizze festgehalten, irgendwann als gänzlich abstrakte Form im Bild wieder auftauchen (offen, 2006). Dieses Festhalten des Beiläufigen oder von Augenblicken kennzeichnet Julia Gutkinas Arbeitsweise. Auf zahlreichen Reisen, bei Studienaufenthalten, Spaziergängen und auf alltäglichen Wegen sammelt sie Eindrücke, die sie zunächst in Form von Skizzen und knappen Farbnotizen festhält. Später dann, im Atelier entstehen aus den Erinnerungen Malereien, Druckgrafiken oder größere Zeichnungen. Im Verlauf dieses gedanklichen und malerischen Prozesses sortiert Gutkina ihre Eindrücke, reduziert die Darstellung immer weiter auf das Wesentliche, und es kann monatelang dauern, bis das Bild wirklich fertig ist. Am Ende bleibt ein Konzentrat stehen, das keine topografische Darstellung einer bestimmten Landschaft ist, sondern das von Julia Gutkina gesehene und em­pfundene Wesen der jeweiligen Landschaft beinhaltet. Ihre Werke sind eine absolut subjektive Reflektion des Gesehenen – dennoch haftet ihnen etwas Universelles an.

Meist zeichnet Julia Gutkina in der Natur, selten malt sie Pleinair (vgl. Beitrag von Franka Keil). Wenn sie es tut, dann nimmt ihre Malerei zuweilen fast naturalistische Züge an, während sie grundsätzlich eher ein Spiel von Abstraktion und Naturform ist. Es geht Gutkina darum, Formen und Farben neu zu sehen, sie anders ins Bild zu bringen. Dafür lotet sie, mit Hang zum Experimentellen, verschiedenste Techniken in Malerei, Zeichnung sowie Druckgrafik aus, und manchmal geht das eine auch aus dem anderen hervor. So erschien ihr der Holzstock, in den der Lichteinfall in den Chor der Kirche von Beeskow geschnitten war (vgl. den Holzschnitt o. titel, 2017), im Querformat wie eine Spiegelung auf dem Wasser. Aus diesem zufälligen Seherlebnis und dem Beeskower Holzstock wurde schließlich das Relief weiße nacht, 2018 – Sehen ist immer auch eine Frage des Blickwinkels.

Der ursprünglich entstandene Holzschnitt ist eines der seltenen Architekturmotive in Gutkinas Werk. Ihr Ausgangspunkt ist fast immer die Natur. Auch Menschen tauchen in ihren Arbeiten nicht auf, lediglich ihre Spuren in Form menschlicher Eingriffe in die Natur sind hier und da sichtbar, wie die charakteristischen Buhnen an der Ostseeküste (usedom, sowie ostsee) oder die glatt gesägte Fläche eines Baumstumpfes (o. titel, 2007). Das genaue Verorten, das Anekdotische sind Gutkina fremd. Zwar geben die Bildtitel gelegentlich Hinweise auf den Ort, von dem diese Eindrücke stammen (Allgäu, Usedom), dennoch geht es nicht um Abbilder dieser Orte, sondern um das Erfassen des Wesentlichen, des „Kompositorischen“, um das Empfinden und Transportieren des Atmosphärischen der jeweiligen Landschaften.

Scheinbar gänzlich abstrakt sind die Formen einer kleinen Werkgruppe auf OSB-Platten (offen und o. titel). Zunächst waren es die Strukturen des Materials, die Julia Gutkina als kompositorisches Element nutzen wollte. Doch auch hier sind der oben erwähnte Schattenwurf bzw. ein Wald Ausgangspunkte der Motive: Baumstämme und -kronen erscheinen stark abstrahiert und schwarz glänzend vor dem matten Grund. Strukturen im Material, sei es in OSB-Platten, Druckstöcken oder auch auf den Rückseiten bereits benutzter Radierplatten sind für Gutkina immer wieder Anreiz auf sie zu reagieren.

Zeichnen kann auch der Versuch sein, das Unfassbare der Natur zu begreifen. Julia Gutkina betrachtet die Welt in ihrer formalen Erscheinung als Gefüge von Linien und Flächen, als Gegensatz von Licht und Schatten, voller optischer Phänomene wie Spiegelungen oder Lichtreflexe. Sie betrachtet absichtslos, als Außenstehende, kann deshalb zunächst analysieren und das Gesehene in seine formalen Bestandteile zerlegen. Es ist ein grafisches Sehen. Gutkina bricht das Bild, das sie vor Augen hat, auf einfache, zum Teil wiederkehrende grafische Elemente herunter. Das können die senkrechten dünnen Linien von Baumstämmen sein oder auch die horizontalen dunklen Linien von Buhnen, die in ihrer rhythmischen Wiederholung an die Setzung von Takten erinnern. Das können auch größere Flächen sein, die in Hell-Dunkel-Kontrasten aufeinanderstoßen, wie bei dem wiederkehrenden Thema des Durchblicks oder des Blicks ins Helle (o. titel (von innen), 2016, aus der höhle, 2011, durchbruch und klamm 1, 2010). Schon die vor Ort entstehenden Zeichnungen und Studien sind selten ein Abzeichnen, sondern vielmehr ein Festhalten von grafischen Eindrücken, Farbwerten und Stimmungen. Für die Betrachtenden ist es dann eine Frage der eigenen Wahrnehmung, ob sie zum Beispiel eine schneebedeckte Landschaft oder eine hell-dunkle Struktur aus Linien und Flächen sehen.

Die Farbe ist in den Werken von Julia Gutkina vor allem Trägerin der Stimmung. Sie spiegelt Gutkinas Seherfahrungen und Empfindungen und überträgt diese auf die Betrachtenden. Auch die (Farb-) Stimmungen sind weniger Abbild, als vielmehr Nachhall einer Empfindung des Augenblicks – sei es der herbstliche Wald, der im Bild als leuchtend gelber Farbsturm vor dunklen Linien erscheint (oktober, 2009/10) oder das Blau und das spezifische Licht eines Sommerabends am Saimaa-See in Finnland (abend, saimaa, 2013) oder auch die kristalline dunkle Lineatur eines Astes in weiß-blauer Fläche (ast, 2009). Gleichwohl sind der Geruch des herbstlichen Waldes, die Stille am See oder die Kälte des Schnees, also momentane Sinneswahrnehmungen, auch beim Betrachten der Bilder und damit losgelöst von Zeit und Ort ihres Ursprungs spürbar. Die gewählten Farbwerte sind zum Teil naturalistisch, zum Teil ganz abstrakt oder sie basieren auf wahrnehmungsphysiologischen Erkenntnissen, wie Komplementär- und Simultankontrast. Sehr deutlich ist das abzulesen an einer Radierung, die den Blick in eine Baumkrone im Sonnenlicht zeigt: Die Blätter werden im Gegenlicht zu rundlichen Formen, die Strukturen treten stärker hervor, das Grün wird im Auge wie im Bild zum komplementären Rotton.

In Julia Gutkinas Werken verbinden sich Ausdruck momentaner Empfindung und überzeitliche Idee sowie physiologische und emotionale Aspekte von Sehen. Sie zeigen einen sehr persönlichen Blick auf die Außenwelt und sie sind, jedes für sich, eine ganz eigene Welt, die es zu sehen gilt.

Kim Behm

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